Der Generalverdacht war nie größer, die Läufer der Welt sitzen auf der Anklagebank. Britische Athleten sahen sich genötigt, ihre Blutwerte, bzw. ihren sog. OFF-Score zu veröffentlichen. Andere Athleten, hierunter auch ein Werfer, bei dem der OFF-Score überhaupt keine Rückschlüsse auf (k)ein Doping-Vergehen zulässt, nutzten die Gelegenheit und veröffentlichen sehr medienwirksam ebenfalls entsprechende Werte.
Die Grafik (siehe unten) zeigt sämtliche, mir vorliegende OFF-Score-Werte der letzten Jahre. Die Werte stammen nicht aus dem Datensatz der IAAF, der der ARD vorliegt, sondern aus meinem Adams-Profil, dem Portal der Wada, über das der nationale und internationale Antidoping-Kampf abgewickelt wird.
Seit September 2015 stellt auch endlich die Nationale Antidoping Agentur mir die Blutwerte zur Verfügung. In der ersten Grafik seht ihr meine OFF-Score Werte. In der zweiten Grafik sind der Hämoglobin-Wert (Hb) und der Hämatokrit-Wert (Hk) dargestellt.
OFF-SCORE – was ist das?
Hat Euer Hausarzt noch nie von diesem Wert gesprochen? Natürlich nicht, denn der Wert spielt in der täglichen Praxis kaum eine Rolle. Der OFF-Score errechnet sich folgendermaßen:
Hb-Wert (g/l) – 60 x Retikulozyten (%)
Was sagt uns der Wert, der normalerweise bei 50 bis 120 liegt? Unter folgendem Link findet Ihr eine kurze Erklärung zu den „ON“- und „OFF“-Modellen. http://www.medicalsportsnetwork.com/archive/304845/Blutparameter-Doping-im-Sport.html
Alle, die eine einfache Version wollen, lesen hier weiter…
Beispiel: Ein Athlet (normaler Hb-Wert von 14,0 g/dl) nimmt Erythropoetin (EPO) und stimuliert damit das Knochenmark, welches sofort mit der Produktion von roten Blutzellen (Erythrozyten) beginnt. Die Vorläuferzellen dieser Erythrozyten heißen Retikulozyten (Normaler Wert liegt so bei 0,5 bis max. 2%). Sollte jetzt eine Kontrolle erfolgen und einen Retikulozytenwert von über 2% ergeben, wird eine Zielkontrolle auf EPO erfolgen! Der Athlet ist gerade in der ON-Phase! Wenn wir jetzt seinen OFF-Score ausrechnen, bekommen wir einen sehr niedrigen Wert heraus. 140 – 60 x 2 = 20.
Der Athlet nimmt für 4 Wochen EPO und setzt es ab, damit er beim Wettkampf nicht erwischt wird. Sobald das EPO abgesetzt wird, stellt das Knochenmark die Produktion der Retikulozyten ein. Der Retikulozyten-Wert sinkt rapide ab! In den 4 Wochen hat sein Körper viele zusätzliche Erytrozyten produziert und somit ist sein Hb-Wert (Hämoglobin) jetzt auf 17,0 g/dl angestiegen. Erythrozyten haben eine Lebensdauer von 120 Tagen! Der Athlet ist jetzt „OFF“ EPO. Sein errechneter OFF-Score wäre jetzt: 170 – 60 x 0,1 = 164.
Der OFF-Score unterliegt natürlichen Schwankungen. Um diesen Wert als indirekten Dopingnachweis (die Substanz wird ja nicht gefunden!) zu werten, muss vor der Abnahme des Blutes einiges beachtet werden:
- kein intensives Training 2 Stunden vor der Abnahme
- Blutspende, Transfusionen, Operationen, Unfälle oder größerer Blutverlust in den letzten 3 Monaten?
- Höhentraining oder Höhensimulationen in den letzten 2 Wochen (nach dem Höhentraining sinkt der Retikulozyten-Wert aber nie so stark ab, wie nach dem Absetzen von EPO!)
- 10 Minuten vor Abnahme ruhig sitzen
- Raumtemperatur
Wann ist Doping im Spiel? Ein sehr hoher Wert (hier im Beispiel: 164) zeigt nicht vereinbare Hb-Werte von 17g/dl (nur 2,5% in der Bevölkerung haben Hb-Werte über 16g/dl) mit sehr niedrigen Retikulozytenwerten (im Beispiel 0,1%). Die Manipulationswahrscheinlichkeit für Männer auf Seehöhe von Werten >133 liegt bei 10.000:1, also 99,99%.
(Der Kommentar erschien am 09.08.2015 im Blog auf der Startseite meiner alten Homepage)
Ich habe mit großem Interesse die aktuelle Doping-Doku von Hajo Seppelt gesehen und verfolge auch die sich hieran anschließende Diskussion sehr aufmerksam. Die Bilder aus Kenia haben mich entsetzt. Ich befinde mich jedes Jahr mehrere Wochen in Kenia und habe es doch nicht wiedererkannt. Neben einem untätigen Verband, der die Sperren der IAAF, werden sie denn empfohlen, nicht umsetzt, zeigte die Reportage eindrücklich, dass sich einige kenianische Läufer regelmäßig in Lebensgefahr begeben mit ihrem unkontrollierten Medikamentenmissbrauch und EPO-Konsum. Hier werden zwei Aspekte deutlich:
- In Kenia scheint es Läufer zu geben, die aus Unwissenheit und mit Hilfe skrupelloser Ärzte leistungssteigernde Mittel einnehmen, ohne zu wissen, welche fatalen Nebenwirkungen diese Mittel entwickeln können. Hier besteht dringender Handlungsbedarf vor Ort - die Läufer müssen umfassend aufgeklärt werden und das Unrechtsbewusstsein muss verstärkt bzw. überhaupt geschaffen werden. Gedopte Athleten müssen in jedem Fall belangt werden, womit ich zum zweiten, strukturellen Aspekt komme.
- Der weltweite Antidoping-Kampf krankt in institutioneller und struktureller Hinsicht. Es kann nicht sein, dass die IAAF und die nationalen Verbände, die an Medaillen gemessen werden, immer neue Rekorde feiern und im Ergebnis von der erfolgreichen Vermarktung ihres Sports leben, immer noch ganz offensichtlichen Einfluss auf die Durchführung von Dopingtests, der Veröffentlichung von Testergebnissen und der Vollstreckung von Sperren nehmen. Die WADA und die nationalen Antidoping-Agenturen befinden sich viel zu oft in wirtschaftlicher und/oder politischer Abhängigkeit zu den Verbänden, zur Politik und Wirtschaft, was sich auch nach dem neuesten WADA-Code von 2015 nicht signifikant gebessert haben dürfte.
Die Tatsache, dass beispielsweise eine russische Läuferin sich bei der IAAF die Teilnahme an den Olympischen Spielen erkaufen konnte oder die Tatsache, dass beispielsweise der kenianische Verband Athleten nicht sperrt, obwohl sie überführt wurden, zeigt unmittelbaren Handlungsbedarf auf:
- Die WADA muss viel stärker die Einrichtung unabhängiger nationaler Antidoping-Agenturen, gerade in den "hot-spot"-Regionen wie z.B. Russland, Kenia, Türkei, forcieren und deren Arbeit überwachen, ggf. auch finanzieren. Hierbei ist v.a. auf eine personelle, finanzielle und politische Unabhängigkeit der Agenturen zu achten.
- Die WADA selbst muss in ihren Kompetenzen und in ihrer Unabhängigkeit gestärkt werden, um die Arbeit der nationalen Antidoping-Agenturen sicherzustellen. Die WADA muss hierfür finanziell viel besser ausgestattet werden.
Der Marathonlauf steht unter Generalverdacht, jeder einzelne Läufer sitzt auf der Anklagebank. Wir stellen schon sämtliche Daten zur Verfügung, nehmen grobe Einschnitte in unsere Rechte auf Informations- und Datenschutz, in unsere Privat- und Intimsphäre in Kauf. Mo Fahrah und einige britische Kollegen sahen sich heute genötigt, ihre Off-Score-Werte zu veröffentlichen, in dem Versuch, den Generalverdacht zu entkräften. Mehr geht nicht. Jetzt sind andere am Zug, endlich die Bedingungen herzustellen, die ein fairer Wettkampf benötigt.